Seit alle Grenzen gefallen sind wie Dominosteine auf RTL oder am Brandenburger Tor, ist die Ostsee so befahren wie die A1. Oder die A100. Aus deutschen Gefilden kann man exotische Reisegebiete wie Polen, Litauen, Lettland, Estland und Russland ansteuern. Skandinavien geht auch, ist aber deutlich teurer. Und old-fashioned. Das alte Nordeuropa eben. Und eine Fährfahrt nach Riga dauert auch viel länger als die nach Göteborg und ist dementsprechend aufregender.
Man fühlt sich ja immer noch ein bisschen wie Agenten, die ins kalte Herz des Bösen reisen. Wenn man auf den Wellen so dahinreitet und weiß, noch ein paar Kilometer geradeaus liegt Kaliningrad, dann hat das irgendwie etwas, na, gruselig ist nicht der richtige Ausdruck, aber es ist nicht so wie beim Herannahnen an Göteborg. Wenn man nicht an Kaliningrad, sondern an Königsberg denkt, macht das die Sache nicht besser. Das ist blutige Erde, die da vor einem liegt, weit entfernt genug, dass man sie nicht sieht, und doch schon ganz nah.
Es war im Winter, wieder im Dezember, als ich eines sehr späten Abends die dunkel rauschende Ostsee hinter mir ließ und eine Stadt betrat, die von den typischen gelben Natriumdampflampen erhellt wurde. Vorerst sah ich von ihr nicht mehr als riesige Kräne, die den Hafen bevölkerten, dunkelgraue Gitterriesen vor schwarzem Himmel. Ein fremdes Land, Litauen, lag vor mir. Das Land, das seit 63 Jahren keiner aus meiner Familie betreten hatte. (Und hier der Warnhinweis: Hier wird keinem Revanchismus gehuldigt, hier soll nicht für die Anfechtung der Oder-Neiße-Grenze plädiert werden.) Das ist der östlichste Ort und zugleich der nördlichste, der einmal deutsch war. Runter von der Fähre und rauf auf eine litauische Straße. Aufregend.
Der Hafen liegt bald links von mir, rechts liegt die Stadt. Klaipéda. Memel. Vom Autofenster aus sieht sie so aus, wie man sich eine real existierende sozialistische Stadt vorstellt: Plattenbauten, verwittert, bröselnd. Aber diese Einkaufszentren! An jeder Straßenkreuzung steht so ein Riesenkasten, einer größer und moderner als der andere. Blühende Landschaftsinseln. Ich stiere aus dem Fenster, und auch wenn es bald Mitternacht ist und noch eine Stunde Fahrt vor mir liegt, bin ich nicht müde. Irgendwann biege ich ab, ins Dunkel. Trotz dieser späten Stunde, trotz dieser untouristischen Jahreszeit sitzt in dem kleinen Kartenhäuschen, einsam auf dem großen leeren Parkplatz, eine Kartenverkäuferin. Da eigentlich klar ist, was ein deutsches Auto um diese Zeit an der Memel am Fährhafen will, verständigen wir uns schnell. Vor mir steht schon ein Auto, und tatsächlich rollen noch ein paar hinter mir heran. Dann kommt die Fähre, gleitet über das Kurische Haff, legt an der Nehrung an und schwupps! betrete ich mittels meines fahrbaren Untersatzes kurische Erde.
Der Name meiner Vorfahren kommt von hier, kommt vom Volk der Kuren, einem alten prussischen Volk, das sich vor Jahrhunderten hier ansiedelte. Weiter nördlich in Lettland gibt es heute noch die Landschaft Kurland. Im 16. oder 17. Jahrhundert besaß dieser winzige Landstrich sogar ein paar Hektar in Übersee, auf Trinidad und Tobago. Und jetzt bin ich hier, und müsste ich nicht etwas Besonderes fühlen? Ja, schon. Die Straße, die jetzt unter meinem Auto abrollt, ist die alte Reichsstraße 1, die über Königsberg nach Aachen führte. Es ist die Straße, auf der der preußische König mit seiner Luise nach Memel flüchtete, als die Franzosen in Berlin standen, als Memel kurze Zeit die Hauptstadt Preußens war, die Straße, auf der der Große Kurfürst im Winter die Schweden jagte. Wie lange, lange ist das her. Man sieht nicht viel, jetzt in der Dunkelheit, aber man ahnt viel.
Bald kommt einer der Hauptorte, Schwarzort früher, Juodkrante heute. Ein schöner Ort soll das sein, sagt mein Reiseführer, aber im Vorbeifahren sieht man nicht viel, zu dunkel. Links muss das Haff sein. Leuchtet da was? Lichter vom Festland? Kaum zu glauben, dass ich hier in dieser geschichtsbeladenen Gegend bin. Sieht man denn nichts von den Dünen? Dafür ist die Nehrung doch berühmt. Und kommt kein Elch vorbei? Göring hat hier gejagt. Durch den Nehrungswald fahre ich weiter, bis ich schließlich nach Nida abbiege, früher Nidden. Und das ist eine andere Geschichte.
Sehr schön, sehr schön... Auch wenn ich ja mehr die Sonne liebe (Wärme auf dem Kopf! Leuchten vor den Augen!). Aber gut, dass es auch Menschen gibt, denen Kälte und Dunkelheit nichts ausmacht. Wer noch auf der Suche nach stillen, geheimnisvollen Orten ist: www.orte-ohne-worte.blogspot.com
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